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The state of Macron is good

Der Schönwetterpräsident

Emmanuel Macron wird von den Medien abgefeiert, als sei er Jesus persönlich; als spaziere er mit offenen Armen über die Wasser des Rheins zum grossen Bruder Deutschland und rette Frankreich und Europa vor sich selbst. Sein eigenes Programm widerspricht dem: Die Französ*innen haben einen Mann vor sich, der aus dem Innersten des (neoliberalen) Mainstreams kommt, vor allem inhaltlich. Im Kern möchte er den Staat abbauen und Arbeiter*innenrechte abschaffen – wohl aber eher aus Ahnungslosigkeit und Naivität als aus Überzeugung. Denn auf einigen Nebenschauplätzen sind die Ideen Macrons nicht nur interessant, sondern sogar ziemlich progressiv, und in der griechischen Schuldenkrise war seine Rolle im Vergleich zu Sozialdemokraten wie Hollande, Gabriel, Jospin, Dijsselbloem oder Schulz geradezu vorbildlich.

Der neoliberale Kern

The state of macro[economics] is good.

(Sowas wie: Der Zustand der Makroökonomik ist gut; wir wissen, wie wir mit Wirtschaftskrisen umgehen müssen.)

Olivier Blanchard, ehem. Chefökonom des internationalen Währungsfonds

Ein Zitat, das bedeutender nicht sein könnte. Keine Sorge, es dürfte den Wenigsten bekannt sein. Die Worte stammen vom ehemaligen Chefökonomen des internationalen Währungsfonds – eine Institution, die mit ihrer Politik Griechenland 30% des Volkseinkommens abgewürgt und in der dritten Welt halbe Kontinente verwüstet hat. Olivier Blanchard bezeichnet den Zustand der Makroökonomik als gut, zu deutsch meint er damit, wir hätten die Probleme mit Wachstum und Arbeitslosigkeit gelöst. Das Zitat stammt aus einem Aufsatz vom August 2008, was im Monat danach geschieht, ist Geschichte: Die Lehman-Bank geht bankrott, das US-Bankensystem implodiert, weltweit werden Banken mit tausenden Milliarden gerettet. Wir schlittern in die grösste Rezession seit den 30er-Jahren, hunderttausende verlieren ihren Job und ihre Häuser, dank Währungsfonds und EZB leiden unsere Freund*innen in Griechenland zehn Jahre später immer noch unter einer Jugendarbeitslosigkeit von 45%, in der EURO-Zone hat weiterhin einer von zehn Menschen keinen Job. The state of macro is good.

Kulissenwechsel, Wirtschaftsfakultät einer beliebigen Universität, wir besuchen die Vorlesung «Makroökonomik 1». Wer sich heute an einer Universität zu Arbeitslosigkeit und Wachstum bildet, kommt kaum um Blanchard oder seine Brüder im Geiste herum. Sein Buch «Macroeconomics» liefert die Grundlage, auf der die «Elite von morgen» sich ihre Welt baut, und Emmanuel Macrons Programm erzählt die gleiche Geschichte: An den Nebenwirkungen von Blanchard’s Medikament krankt die europäische Wirtschaft. Wie können wir sie retten, indem wir noch mehr davon verschreiben?

Emmanuel Macron antwortet darauf auf Seite 8 des Programms, es beginnt wie die Abschrift eines jeden Standard-Ökonomiebuchs. Arbeitslosigkeit habe mit zu viel Abneigung von Erfolg und Scheitern in der französischen Bürokratie zu tun. Diese bestrafe alle, die Risiko auf sich nehmen: Wer reüssiert, wird besteuert, wer scheitert, kommt sowieso unter die Räder. Das Unternehmertum will Macron deshalb fördern, durch tiefere Sozialabgaben auf Löhne und gesenkte Unternehmenssteuern. Um die Löhne weiter unter Druck zu setzen, sollen Verhandlungen über effektive Arbeitszeiten auf die Betriebsebene verlagert werden, damit sich Gewerkschaften gegenseitig unterbieten können; die Philosophie des «Loi el Khomri», von Hollande ohne Zustimmung des Parlaments durchgesetzt.

Auch bei der Fiskalpolitik (Staatseinnahmen und -Ausgaben) setzt Macron voll auf Austerität, er möchte die Staatsausgaben um 60 Milliarden Euro reduzieren und das Defizit auf 3% des BIP senken, die Fiskalpolitik übernimmt damit den Vertrag von Maastricht mit seinen willkürlichen Schulden- und Defizitgrenzen. Die Bedeutung der Staatsschulden streicht er auch auf der letzten Seite hervor – unter dem Titel «Ernsthaftigkeit und Verantwortung». Ernsthaft? In Frankreich hat nach wie vor eine*r von zehn keinen Job. In der gleichen Situation in den USA fuhr Obama aggressiv dazwischen: Mit erhöhten Staatsausgaben von 5% des BIPs bekämpfte Obama 2008 die Arbeitslosigkeit erfolgreich. Macron hingegen wagt einen «Investitionsplan» von nur 2% des BIP, durch die Budgetkürzungen erübrigt sich dessen Effekt gleich. Er drückt sich damit vor der Verantwortung für die rekordhohe Arbeitslosigkeit in Frankreich. Die Verantwortung für Investitionen will Macron möglichst an die EU abgeben, aus einem gemeinsamen EU-Budget sollen diese finanziert werden.

Staatsausgaben und Löhne bestimmen unser Leben massgeblich; der Service Public versorgt uns mit grundlegenden Dienstleistungen, vom Lohn kaufen wir uns die wichtigsten Güter. Macron verfolgt beim Arbeitsmarkt und bei den Staatsaufgaben eine neoliberale Vision. Die Massnahmen könnten aus Blanchards Lehrbuch «Macroeconomics – A European Perspective» stammen (Die vermeintlichen Vorteile von unregulierten Arbeitsmärkten finden wir ab Seite 170, zur bösen Staatsverschuldung betrachten wir die Seiten 528-531). Lassen wir Blanchard erneut für das neoliberale Establishment frohlocken: The state of Macron is good!

Im Westen nichts Neues?

Macron politisiert in den wichtigsten Punkten neoliberal, daran besteht kein Zweifel. Und trotzdem könnten einige seiner Voschläge die Welt verbessern, mit vollem Einsatz möchte er Privilegien und Diskriminierungen abschaffen. Durch ein Bonus-Malus-System sollen in Zukunft diejenigen Unternehmen mehr in die Arbeitslosenversicherung bezahlen, die mehr prekäre Arbeitsverhältnisse anbieten. So werden unbefristete Arbeitsverträge gefördert und die Arbeitslosigkeit von denjenigen finanziert, die sie auch verursachen. Eine Regierung Macron würde die Arbeitslosenversicherung ausweiten auf Bäuer*innen, Selbständige und Unternehmer*innen. Emmanuel Macron möchte auch den Zugang zur Kultur verbessern. Seine Regierung verspricht, dass die Menschen in Frankreich pünktlich zum 18. Geburtstag einen Kulturpass von 500 Euro erhalten, mit welchem sie Bücher kaufen, ins Kino gehen oder Theaterbesuche finanzieren können. Dazu sollen Bibliotheken an Abenden und Wochenenden geöffnet werden, so erhalten alle Menschen gleichberechtigt Zugang zu Büchern. Auch die Finanzen möchte Macron reformieren: Steuerabkommen zwischen Staaten und Konzernen wird er auf europäischer Ebene bekämpfen und französische Gemeinden zu partizipativem Budgetieren motivieren, ganz nach dem Vorbild von Paris und anderen Städten. Partizipatives Budgetieren bedeutet, dass die Bevölkerung mit eigenen Ideen das Budget gestalten kann. So können politische Prioritäten in den Gemeinden ausgehandelt und die Lebensumstände der Bevölkerung verbessert werden.

Natürlich löst formale Chancengleichheit keines der drängenden Probleme der heutigen Welt. Ich bin aber überzeugt, dass das vielen Leuten erst dann bewusst wird, wenn formale Chancengleichheit herrscht. Und in den nächsten Tagen wird Yanis Varoufakis in seinem neuen Buch «Adults in the Room» noch ein weiteres Argument liefern, weshalb Macron nicht vorschnell verurteilt werden sollte: Scheinbar war Macron im Frühjahr 2015 durchaus bereit, den Griech*innen zur Hilfe zu eilen, wurde aber von der sozialdemokratischen Regierung in Paris zurückgepfiffen. Auch die deutschen Sozialdemokraten um Martin Schulz und Sigmar Gabriel fielen nicht gerade durch Solidarität auf. Gut möglich, dass ein Präsident Macron wünschenswerter ist als ein Kanzler Schulz.

Der Schönwetterpräsident

Emmanuel Macron möchte in einem neoliberalen Gerüst die Lebensumstände der Menschen optimieren. Er ist damit sowas wie der Wunschpräsident für das neoliberale Ende der Geschichte – an das nicht mal mehr dessen Erfinder glaubt. In den 90ern behauptete der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, die Welt würde in der neoliberalen Demokratie enden, er hat sich aber seither davon distanziert. Die Verkündung «the state of macro is good» schlägt in die gleiche Kerbe: Macron ist der perfekte Schönwetterpräsident für eine Welt, in der die grossen Probleme gelöst sind. Wirklich gefährlich macht ihn deshalb erst, dass er neoliberale Politik so lustvoll verkaufen kann. Nicht ohne Grund lautet das Medienecho heute: The state of Macron is good. Nachdem wir 2008 erfahren haben, wie viel Verlass auf solch überschwänglichen Optimismus unseres Establishments ist: Diesmal sind wir gewarnt. Bereiten wir uns auf alle Eventualitäten vor und entwickeln wir Rezepte, um auf das nächste Scheitern der neoliberalen Politik und das Voranschreiten der Rechten vorbereitet zu sein. In den Worten von Philippe Poutou:

Pour faire reculer durablement [le] péril [de l’extrême droite], il n’y a pas d’autre solution que de reprendre la rue, contre l’extrême droite, mais aussi contre toutes celles et ceux qui, comme Macron, ont mis en place ou veulent imposer des mesures antisociales.

(Um die extreme Recht dauerhaft zurückdrängen zu können, gibt es keine andere Lösung als den Weg zurück auf die Strasse; gegen die extreme Rechte, aber auch gegen diejenigen, die wie Macron unsoziale Massnahmen umgesetzt haben oder umsetzen wollen).

Philippe Poutou, ehem. Präsidentschaftskandidat «Neue antikapitalistische Partei»

Stundenlang über Macron zu diskutieren ist eigentlich ziemlich müssig; niemand kann voraussehen, wie seine Politik in der Realität wird. Macron ist vielmehr ein Symptom für eine Gesellschaft, die in der Mehrheit offen für progressive Positionen ist, gleichzeitig sind viele Menschen immer noch vom TINA-Prinzip geprägt – es gibt keine Alternative zum Kapitalismus. Emmanuel Macron bietet aber genau deshalb eine grosse Chance für die Linke, weil Liberalisierungen des Arbeitsmarkts und Austerität massiven Widerstand auslösen werden, seine Politik aber ansonsten vergleichsweise harmlos ist. Nimmt die Linke diesen Steilpass auf, baut so massiven Widerstand gegen den Neoliberalismus à la Macron auf und setzt Macron die progressiven Krümel seiner Politik durch, können wir optimistisch sein: In den nächsten fünf Jahren kann sich die Linke dem Widerstand gegen offen schädliche Politik widmen, ohne in der Regierungsverantwortung zu sein. Eine grosse Chance!