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Glaubwürdig bleiben – Volkspension einführen

Aus linker Sicht gibt es am 24. September gute inhaltiche Gründe für und gegen die Altersvorsorge 2020; das Ja oder Nein an der Urne wird deshalb im Endeffekt ein taktisches sein. Will die Linke bei einer nächsten Abstimmung nicht erneut taumeln sondern voll angreifen, muss das theoretische und ideologische Fundament dazu jetzt gelegt werden.

Die AHV ist mit Abstand die sozialste Errungenschaft der Schweiz. Sie sichert gute Renten für die Mehrheit statt Profite für wenige. Doch reicht diese Argumentation in einer Welt, wo die Masse der Medien und die bürgerlichen Parteien den Rentenuntergang herschreiben? Wo Wirtschaftsprofessorinnen der HSG monieren, nur mit Pensionskassen seien Ersparnisse und damit Investitionen möglich? Um die Renten-Behauptungen von rechts kontern zu können, muss eine breite Linke wieder ein Verständnis für Zusammenhänge im Kapitalismus entwickeln. Post-keynesianische Ökonomik bietet einen interessanten Ansatzpunkt.

Wie rechtfertigt die herrschende Wirtschaftstheorie Pensionskassen?

Die herrschende Wirtschaftstheorie argumentiert folgendermassen: Wer in Pensionskassen einbezahlt, erhöht die Ersparnisse. Diese fliessen in die Finanzmärkte, wo Banken willige Schuldner*innen finden. Diese nutzen den Pool an Ersparnissen (loanable funds), um die Produktionskapazitäten mit neuen Produktionsmitteln auszuweiten, also zu investieren. Dadurch kann die Wirtschaft wachsen. Wer dieser Story glaubt, für den ist absolut klar, weshalb Pensionskassen trotz ihrer massiven Verwaltungskosten und ihrer Umverteilung von unten nach oben ausgebaut werden sollen: Ohne Pensionskassen gibt es schlicht keinen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt mehr für die Menschen – nicht einmal Investitionen in die ökologische Transformation, Infrastruktur oder in soziale Dienstleistungen!

Das Argument der herrschenden Lehre zusammengefasst: «Wir brauchen Investitionen, und Pensionskassen ermöglichen dies mit Ersparnissen. Indem sie die Ersparnisse der Bevölkerung erhöhen, ermöglichen Pensionskassen mehr investitionen in die Zukunft. Ohne Pensionskassen keine (zu wenige) Ersparnisse und keine (zu wenige) Investitionen.»

Wie funktioniert der Investitionsprozess gemäss Postkeynesianischer Ökonomik?

Ganz anders erklären Post-Keynesianer*innen den Investitionsprozess: Dass Investitionen immer den Ersparnissen entsprechen müssen, ist eine Binsenwahrheit ohne theoretische oder politische Aussagekraft. Entscheidend ist die Kausalität. Ist es also wirklich so, dass Investitionen aus unseren Einlagen auf der Bank finanziert werden?

Post-keynesianer*innen bestreiten das. Investitionen hängen nicht von einem Pool aus Ersparnissen, sondern von den Profit- und damit Absatzperspektiven der Unternehmnen ab. Entscheidend ist die nötige Nachfrage nach Produkten, damit die vorhandenen «Produktionskapazitäten» genutzt werden können. Damit ist gemeint, dass Vollbeschäftigung herrscht und alle Pruduktionsstätten stark ausgelastet sind. Unternehmen werden nur dann weitere Produktionsstätten eröffnen und bessere Maschinen anschaffen, wenn sie nahe an ihren Kapazitätsgrenzen sind und Absatzperspektiven gut sind. Dann können sie mit zusätzlichen Investitionen mehr Profit erzielen. Kapitalistische Unternehmen produzieren insgesamt nahezu immer mit Überkapazitäten, was wir an den trendmässig gestiegenen Arbeitslosenzahlen sehen. Unter diesen Umständen bringt ein noch so grosser Topf an Ersparnissen nichts – und damit auch keine Pensionskassen. Nur wenn die Nachfrage der Bevölkerung stetig steigt und die Kapazität deshalb ausgebaut werden muss, investieren die Unternehmen.

Wichtig ist deshalb besonders eine kaufkräftige Bevölkerung; dazu gehören insbesondere die ärmeren Rentner*innen. Genau diese werden mit einem substantiellen Ausbau der AHV gestärkt.

Zusammengefasst lautet das post-keynesianische Argument so: «Das kapitalistische Wirtschaftssystem produziert systematisch unter Kapazität. Unternehmen werden nicht investieren, solange sie die Nachfrage mit ihren bestehenden Anlagen decken können. In einer etwas schlampigen Metapher ausgedrückt: Wer mit angezogener Handbremse fährt, muss sich um zu wenige PS keine Sorgen machen. Die angezogene Handbremse ist im Kapitalismus die fehlende Nachfrage.»

Woher kommen die Ersparnisse?

Entscheidend für die Bewertung der beiden Theorien ist deshalb der Prozess, wie Investitionen geschehen und wie/wann die Bevölkerunge spart. Darin unterscheiden sich Post-keynesianismus und Neoklassik massgeblich.

In der neoklassischen Story vermitteln Banken lediglich Ersparnisse von Sparer*innen zu Investor*innen. Je mehr gespart wird, desto mehr können die Unternehmen investieren. Der Zins gleicht als Preis für Geld Angebot (die Ersparnisse) und Nachfrage (Kreditnachfrage, zum Beispiel für Investitionen) aus, so dass die beiden immer gleich gross sind. Der Investitionsprozess wird durch die Menge an Ersparnissen bestimmt. Wie viel gespart wird, ist eine individuelle Entscheidung jeder Person, kann jedoch mit Anreizen beeinflusst werden. Die Investitionen entsprechen den Ersparnissen.

Post-Keynesianer*innen sehen das anders: Investiert wird, indem Unternehmen bei einer Bank einen Kredit aufnehmen. Dieser wird von der Bank «aus dem nichts» geschöpft. Das Unternehmen kann damit Lieferanten bezahlen, Mitarbeiter*innen einstellen oder neue Produktionsstätten bauen. Dadurch entsteht Einkommen einer Vielzahl von Personen; die Angestellten des Lieferanten oder des Produktionsunternehmens, aber auch die Arbeiter*innen, die die neue Produktionsstätte bauen. Erst die Einkommen dieser Personen schaffen die Möglichkeit zu sparen. Mit diesen Ersparnissen werden die Kredite in einer Periode im Nachhinein finanziert. Die Investitionen entsprechen den Ersparnissen.

Während für Neoklassiker*innen die Sparnisbildung der kritische Punkt ist, gehen Post-keynesianer*innen einen zusätzlichen Schritt zurück: Sind nicht genügend Investitionen erfolgt, kann das Individuum gar nicht sparen. Deshalb braucht es genügend Investitionen mit Krediten aus dem nichts. Anreiz für solche Investitionen besteht nur, wenn die Nachfrage ausreichend ist.

Alles nur alternative Fakten?

Welche Story glaubwürdiger ist, hängt schlussendlich vom Geldsystem ab: Werden Investitionskredite aus dem Nichts finanziert oder sind dazu erst mal Ersparnisse nötig? In den letzten Jahren haben dazu immer mehr Zentralbanken Stellung bezogen, zum Beispiel die deutsche Bundesbank:

Buchgeld ist der volumenmäßig größte Teil der Geldmenge und wird durch Geschäfte zwischen Banken und Kunden aus dem Inland geschaffen. Ein Beispiel dafür sind Sichteinlagen: Sie entstehen, wenn eine Bank mit einem Kunden Geschäfte abwickelt, also zum Beispiel einen Kredit gewährt oder einen Vermögenswert ankauft, und sie ihm im Gegenzug den entsprechenden Betrag auf seinem Bankkonto gutschreibt. Banken können also allein mittels eines Buchungsvorgangs Buchgeld schaffen: Das widerlegt einen weitverbreiteten Irrtum, wonach die Bank im Augenblick der Kreditvergabe nur als Intermediär auftritt, also Kredite lediglich mit Mitteln vergeben kann, die sie zuvor als Einlage von anderen Kunden erhalten hat, schreiben die Bundesbank-Ökonomen. Ebenso sind vorhandene überschüssige Zentralbankguthaben keine notwendige Voraussetzung für die Kreditvergabe (und die Geldschöpfung) einer Bank.

Ähnlich argumentierte bereits früher die Bank of England, zitiert nach Bill Mitchell:

The currently dominant intermediation of loanable funds (ILF) model views banks as barter institutions that intermediate deposits of pre-existing real loanable funds between depositors and borrowers. The problem with this view is that, in the real world, there are no pre-existing loanable funds, and ILF-type institutions do not exist.

Das aktuell vorherrschende Modell der «intermediation of loanable funds (ILF)» sieht Banken als Tauschinstitutionen, die Depositen aus bereits existieren Ersparnissen zwischen Sparern und Schuldnern vermitteln. Das Problem dieser Sicht ist, dass es in der realen Welt keine bereits existierenden Ersparnisse gibt und ILF-Institutionen existieren auch keine.

Die Kreditvergabe und damit die Investitionsbereitschaft der Unternehmen hängt also nicht von Ersparnissen ab. Die Stellungsnahmen der Zentralbanken liefern klare Evidenz für die Post-keynesianische Perspektive. Damit kann die Linke getrost in die Offensive gehen.

Der Weg zur Volkspension

Nehmen wir Linke unsere theoretischen Einsichten ernst, ist die Diagnose eindeutig: Es gibt keinen Grund, Pensionskassen zu verteidigen oder gar auszubauen. Sie schaden der wirtschaftlichen Entwicklung und sind dazu noch ungerecht. Das Drei-Säulen-System war von Beginn an ein fauler Kompromiss der SP mit den Bürgerlichen.

Wollen wir bei den Renten glaubwürdig bleiben, dürfen wir uns keine Widersprüchlichkeiten erlauben. Deshalb müssen wir zwingend eine Volkspension fordern, finanziert durch stark progressive Steuern. Dazu müssen wir aber als Grundlage auch wieder beginnen, unsere Weltsicht zu erklären. Solange wir selbst in der neoliberalen Ideologie gefangen sind, wird aus diesem vernünftigen Anliegen nichts.